Beeley, Philip; Scriba, Christoph J. (Hrsg.): The Correspondence of John Wallis. Vol. I (1641-1659). With the Assistance of Uwe Mayer and Siegmund Probst.
Oxford: Oxford University Press 2003. XLVII + 651 S., 1 Porträt. ISBN 0-19-851066-7. £ 120.00

Verglichen mit Gelehrten wie Fermat, Pascal, Huygens, Leibniz und Newton gehörte John Wallis (1616-1703) aus heutiger Sicht nicht zu den herausragenden Mathematikern seiner Zeit. Sein Name wird vor allem mit dem nach ihm benannten unendlichen Produkt zur Berechnung von 4/π verbunden; in der Geschichte der Mechanik kennt man ihn durch seine Beiträge zur Theorie des elastischen Stoßes. Seine Arbeiten zur Mathematik des Unendlichen (Arithmetica Infinitorum, 1656) sind eine Vorstufe zu der von Leibniz und Newton entwickelten Infinitesimalrechnung, und als Savilian Professor of Geometry in Oxford für mehr als ein halbes Jahrhundert (von 1649 bis zu seinem Tod) sowie als Gründungsmitglied der Royal Society hatte er eine einflußreiche Stellung in jener Blütezeit der englischen Wissenschaft.

Die Vielseitigkeit seines Schaffens spiegelt sich eindrucksvoll in seinem umfangreichen Briefwechsel wider. Christoph J. Scriba, der zusammen mit Philip Beeley den hier vorliegenden ersten Band herausgegeben hat, dürfte z. Zt. der kompetenteste Wallis-Kenner sein: Schon vor beinahe 40 Jahren hat er die mathematischen Manuskripte von Wallis bearbeitet und ein vorläufiges Verzeichnis seiner Korrespondenz erstellt (Studien zur Mathematik des John Wallis (1616-1703) und A tentative index of the correspondence of John Wallis, F.R.S, beides 1967). Seine auf jahrzehntelangem Quellenstudium beruhende Kenntnis der Mathematik jener Zeit und Philip Beeleys Vertrautheit mit dem politischen und kulturellen Umfeld im England des 17. Jahrhunderts kommen diesem Band ebenso zugute wie die von beiden Herausgebern praktizierte methodische Strenge im Umgang mit Quellentexten.

Der Band enthält 199 Briefe aus den Jahren 1641-1659. Dabei sind 44 Briefe mitgezählt, deren Existenz zwar belegt, deren Text jedoch verloren ist. Bei diesen Briefen wird der Inhalt auf der Grundlage anderer Quellen rekonstruiert und zusammengefaßt. Ferner enthält diese Gesamtzahl mehr als 30 Briefe dritter, deren Inhalt mit der Wallis-Korrespondenz eng zusammenhängt; die Zahl der von Wallis geschriebenen oder an ihn gerichteten Briefe, deren Originaltext hier veröffentlicht wird, reduziert sich damit auf etwa 125.

Die wichtigsten Briefpartner, mit denen Wallis in der hier erfaßten Zeit über mathematische Fragen korrespondierte, waren (Zahl der Briefe von/an Wallis in Klammern) William Brouncker (14/19), Christiaan Huygens (12/8), Frans van Schooten (7/3), William Oughtred (4/1) und Johannes Hevelius (4/2); Themen waren u.a. die Lösung kubischer Gleichungen, die Kreisquadratur und zahlentheoretische Probleme. In diesem Zusammenhang sind keine Briefe zwischen Wallis und seinem französischen Kontrahenten Pierre de Fermat bekannt; dieser ist in dem Band nur durch Briefe von und an den als Vermittler wirkenden Kenelm Digby vertreten. Zu den an Wallis gerichteten Schriftstücken, die Fermat an Digby schickte, gehörte auch sein kritischer Kommentar zu Wallis' Arithmetica Infinitorum (Brief Nr. 118: Remarques sur l'Arithmétique des Infinis du S. J. Wallis).

Ein eindrucksvoller Beleg dafür, daß der Pfarrerssohn und studierte Theologe Wallis sich neben der Mathematik immer auch mit theologischen Fragen beschäftigt hat, ist sein Briefwechsel mit dem presbyterianischen Geistlichen Richard Baxter (2/2). An ihn ist der längste in dem Band enthaltene Brief gerichtet, in dem Wallis auf über 100 Druckseiten Baxters 1649 erschienene Aphorismes of Justification kommentiert.

Nur ein Brief betrifft ein Talent, das es Wallis ermöglicht hat, der englischen Regierung wertvolle Dienste zu leisten: Er war ein Meister in der Kunst, verschlüsselte Botschaften zu entziffern. Ein gewisser Richard Lawrence, Politiker mit militärischem Rang, schickt ihm einen in unbekannten Buchstaben geschriebenen Text, und Wallis hat seine Lösung - den Schlüssel zur Entzifferung - auf dem Brief notiert.

In formaler Hinsicht haben sich die Herausgeber an der Leibniz-Edition der Preußischen Akademie und deren Nachfolge-Institutionen orientiert. In der Einleitung geben sie einen Überblick über die wichtigsten in dem Band behandelten Themen. Die in chronologischer Reihenfolge wiedergegebenen Briefe werden in 1065 Fußnoten erläutert. Diese beziehen sich hauptsächlich auf Personen und Titel von Publikationen, die identifiziert werden; ferner werden die Quellen der zahlreichen Zitate aus griechischen und lateinischen Werken des klassischen Altertums angegeben. Am Ende des Bandes findet man zahlreiche nützliche Hilfen, die eine schnelle Orientierung ermöglichen: kurze Biographien der Korrespondenten, ein Literaturverzeichnis, eine Liste aller in dem Band abgedruckten oder erwähnten Briefe und ein Personen- und Sachregister.

In der Ankündigung des Verlags werden Historiker der Mathematik und der Naturwissenschaften »from undergraduate to researcher level« als potentielle Leser anvisiert. Das dürfte sich aufgrund sprachlicher Hürden als Illusion erweisen: Nicht nur Studienanfänger, sondern auch viele fortgeschrittene Wissenschaftshistoriker scheitern heute an lateinischen Texten, selbst wenn sie in so einfachem und leicht lesbaren Latein verfaßt sind wie die meisten der in diesem Band enthaltenen lateinischen Briefe (etwa 2/3 aller Briefe). Eine zum Originaltext hinzugefügte Übersetzung in die Arbeitssprache, wie es bei der Euler-Edition üblich ist, oder wenigstens eine kurze englische Zusammenfassung des Inhalts wäre sicher vielen Benutzern willkommen gewesen.

Schon jetzt ist abzusehen, daß die Edition zu den großen Briefsammlungen berühmter Gelehrter des 17. Jahrhunderts gehören wird, vergleichbar den Ausgaben der Korrespondenzen von Kepler, Galilei, Mersenne, Huygens und Oldenburg. Der historischen Forschung - insbesondere zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften, aber auch zur Kultur- und Geistesgeschichte Englands - wird hier eine einzigartige Quelle zugänglich gemacht, und es bleibt zu hoffen, daß das auf sechs Bände veranschlagte Projekt erfolgreich fortgesetzt und abgeschlossen werden kann.

Andreas Kleinert