Akademische Disputierschriften aus der "Bibliothek Schimank"

Hans Schimank (1888–1979) gehörte zu den großen Hamburger Gelehrten unseres Jahrhunderts. Sein wissenschaftlicher Werdegang, seine Verdienste als Lehrer an den Technischen Lehranstalten (der heutigen Fachhochschule Hamburg) und als Historiker der Naturwissenschaften sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden.1 Hier sei nur daran erinnert, daß er auch dem öffentlichen Bibliothekswesen der Hansestadt eng verbunden war. Über 30 Jahre, von 1946 bis 1977, war er Mitglied des Verwaltungsrates der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen und hat "mit viel Interesse am Ganzen und in Einzelfragen, sehr lebendig und kritisch in den Sitzungen" ihre Entwicklung zum größten kommunalen öffentlichen Bibliothekssystem in der Bundesrepublik mitbestimmt.2
        Seit 1975 besitzt das Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik der Universität Hamburg Hans Schimanks kostbare wissenschaftliche Bibliothek. Der besondere Wert dieses einmaligen Buchbestandes liegt für den Historiker der Naturwissenschaften nicht zuletzt darin, daß Schimank bei aller Ehrfurcht vor den Großen der Wissenschaft sein Augenmerk immer wieder auch auf den "normalen",3 alltäglichen Wissenschaftsbetrieb richtete und entsprechendes Schrifttum liebevoll sammelte. Lehr- und Handbücher, Fachlexika und Tabellenwerke waren für ihn zum Verständnis einer Epoche ebenso wichtig wie die Veröffentlichungen spektakulärer Entdeckungen oder revolutionärer Theorien. So kommt es, daß die "Bibliothek Schimank" ihren besonderen Wert als Arbeitsinstrument für den Wissenschaftshistoriker immer dann erweist, wenn die normale Wissenschaft früherer Jahrhunderte untersucht werden soll.
        Hier sind die akademischen Disputierschriften eine bisher kaum benutzte Quelle. Hans Schimank besaß etwa 50 derartige Abhandlungen aus dem Bereich der Physik und der Chemie. Einige charakteristische Exemplare dieser Literaturgattung aus dem 17. und 18. Jahrhundert sollen im folgenden näher beschrieben werden. Dabei dürfte die im Rahmen dieser bildungsgeschichtlichen Untersuchung auffallende Ähnlichkeit der alten Universitäten mit den heutigen Fachhochschulen den Jubilar besonders erfreuen.
        Gemeinsam ist beiden Institutionen, daß ihre Aufgabe nicht primär die Forschung ist, sondern die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die die Studenten zur Ausübung eines Berufes befähigen sollen. Das schließt nicht aus, daß unter den Professoren der alten Universitäten wie unter den heutigen Fachhochschullehrern hervorragende Forscher zu finden sind: als Beispiel für unser Jahrhundert sei noch einmal auf Hans Schimank hingewiesen. Die normale Tätigkeit des Hochschullehrers im 17. und 18. Jahrhundert war jedoch die Weitergabe überlieferter Wahrheiten und Denkmethoden. "Die Universitäten suchen nicht die Wahrheit, sondern lehren sie und üben sie ein; sie sind nicht Forschungs- sondern Unterrichtsanstalten". Mit diesen Worten charakterisiert Ewald Horn die alten Universitäten in seiner Studie, auf die sich auch die folgenden allgemeinen Bemerkungen über die Disputierschriften stützen.4
        Die Disputation, d.h. das Streitgespräch über einen wissenschaftlichen Gegenstand, war ein fester Bestandteil des akademischen Unterrichts; sie sollte dem Studenten Gelegenheit geben, über den Stand seines Wissens Rechenschaft abzulegen. Grundlage der Disputation war der Inhalt der zuvor veröffentlichten Disputierschrift: Der Respondent (d.h. der Student, der sich diesem Verfahren unterzog) mußte unter dem Vorsitz eines Professors (Präses) auf die Einwände der Opponenten antworten; diese waren fortgeschrittene Studenten oder auch andere Professoren.
        Obwohl die meisten Disputierschriften im Titel als "Dissertatio" bezeichnet werden, sind sie mit den heutigen Dissertationen nicht zu vergleichen. Sie enthalten keine neuen wissenschaftlichen Einsichten, sondern Auszüge aus dem Stoff der Vorlesungen; damit entsprechen sie eher unseren Seminar- oder Studienarbeiten. Anlaß zu einer Disputation konnte das Erwerben eines akademischen Grades sein; die Schrift trägt dann einen entsprechenden Vermerk wie z.B. "Dissertatio ... pro consequendis legitime magisterii philosophici honoribus" bei einer Magister-Dissertation. Disputiert wurde aber auch aus anderen Gründen: Entweder war eine bestimmte Anzahl von Disputationen durch die Universitätsstatuten vorgeschrieben, oder der Student war gehalten, gegenüber seinen Eltern oder dem, der sonst sein Studium finanzierte, nach einem gewissen Zeitabschnitt über seine Fortschritte Rechenschaft abzulegen. Die Prüfung – und das war die Disputation für den Respondenten – bestand darin, daß er seine Kenntnisse und seine Redegewandtheit im mündlichen Streitgespräch unter Beweis stellte. Das Verfassen der Disputierschrift gehörte dagegen nicht unbedingt dazu. Hier gab es keine feste Regel, und häufig ist heute nicht mehr zu ermitteln, wer der Autor einer als "Dissertatio" vorgelegten Abhandlung war. "Bald schreibt der Präses die Disputation, bald der Respondent, bald arbeiten beide zusammen daran, bald ist keiner von beiden der Verfasser. Der Titel verrät im allgemeinen wenig davon".5 So trat häufig der für moderne Verhältnisse grotesk wirkende Fall ein, daß die anläßlich der Erwerbung des Doktorgrades angefertigte "Dissertatio" nicht vom Doktoranden, sondern von seinem Doktorvater angefertigt worden war. Bezüglich aller weiteren Einzelheiten sei auf die Arbeit von Horn verwiesen; wir wollen uns jetzt einigen der von Hans Schimank gesammelten Disputierschriften zu physikalischen Themen zuwenden.
        Es sollen im wesentlichen drei Abhandlungen näher betrachtet werden, die innerhalb eines Zeitraums von rund 100 Jahren entstanden sind. Wir beginnen mit der Dissertatio physica de coelo, die im April 1655 in Jena verteidigt wurde. Präses war Christoph Heinrich Löber; Respondent Samuel Naundorff aus Altenburg.
        Die in 55 Paragraphen eingeteilte Schrift umfaßt 13 Seiten. Sie steht noch ganz in der Tradition der scholastischen Gelehrsamkeit des Mittelalters. Nach weitschweifigen Ausführungen über die Wichtigkeit von Definitionen werden die verschiedenen Bedeutungen von "coelum" aufgezählt, und erst im 5. Paragraphen teilt der Autor mit, was er darunter verstehen will: den natürlichen, einfachen, sphärischen und durchsichtigen Körper, in dem alles enthalten ist ("corpus naturale simplex, sphaericum, pellucidum, quodque suo ambitu omnia continet"). Diese Definition entspreche im übrigen dem Inhalt von De coelo, womit stillschweigend schon auf den Autor hingewiesen wird, an dem sich der Wissenschaftsbetrieb der damaligen Universitäten – und damit auch die Disputation unseres Naundorff – orientierte: Aristoteles. Der Stagirit und seine Kommentatoren haben zu der vorliegenden Abhandlung den Stoff geliefert, und so wird im folgenden mit unübertrefflicher Spitzfindigkeit darüber räsonniert, ob der als unveränderlich geltende Himmel Materie enthalten könne, die doch veränderlich sei. Die Frage wird schließlich (im 16. Paragraphen) positiv beantwortet, und Naundorff fragt sich nun, ob diese himmlische Materie mit der der unteren Sphären identisch oder von ihr verschieden sei. Auch dieses Problem wird anhand von Aussagen der "veteres philosophi" behandelt. Plato, Macrobius, Basilius, Albertus Magnus und andere werden zitiert, und der Verfasser schließt sich am Ende denjenigen an, die meinen, die Himmelsmaterie sei von derselben Art wie die der darunter liegenden Welt. Er betont, daß er sich damit "sententiam Praeceptoris nostri" zu eigen macht – ein Hinweis darauf, daß hier wohl tatsächlich der Respondent die Schrift verfaßt hat.
        Die weiteren Themen dieser Abhandlung – ob die Himmelssphären von Engeln bewegt werden, ob vom Himmel Einflüsse auf die Erde ausgehen, usw. – werden genauso behandelt. Thomas von Aquin, Averroes und viele andere werden bemüht, bevor sich der Autor einer der jeweils vorgelegten Ansichten anschließt – vermutlich auch hier wieder der Lehrmeinung seiner Professoren.
        Ein aufschlußreiches Dokument zur Universitätsgeschichte ist diese Disputierschrift vor allem wegen der Dinge, die dort nicht vorkommen: Von Kopernikus, Kepler oder Galilei steht hier kein Wort. Das 17. Jahrhundert war eine Blütezeit der Naturwissenschaften, aber in dem "amplissimum ac spectatissimum collegium philosophicum" in Jena hatte das, was später die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit heißen sollte, zu der Zeit der Löber und Naundorff kaum Spuren hinterlassen. Und doch: An einer Stelle, im 39. Paragraphen, deutet Naundorff an, daß er nicht nur Aristoteles kennt, sondern auch von den Gelehrten seines Jahrhunderts etwas gehört hat. Ob sich der Himmel bewege, so schreibt er, sei umstritten: Aristoteles und die Alten hätten gemeint, der Himmel bewege sich mitsamt den Sternen, während die Neueren ("recentiores") der Ansicht seien, der Himmel befinde sich in Ruhe und nur die Sterne seien in Bewegung. Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Übung verschweigt er, wen er mit diesen "recentiores" meint, und er vermeidet es, eindeutig Stellung zu nehmen: die Ansicht der letzteren erscheine ihm zwar wahrscheinlicher, aber er wolle auch denen, die die Meinung der Alten teilen, nicht widersprechen ("... quae sententia est recentiorum, et probabilior: quamvis nos cuique utram velit eligere, liberum relinquamus").
        Wir überspringen jetzt knapp ein halbes Jahrhundert und begeben uns an die Universität Altdorf. Von hier existiert in der "Bibliothek Schimank" eine Disputierschrift, bei der der glückliche und höchst seltene Fall vorliegt, daß nicht nur der Präses ein bekannter Gelehrter war, sondern daß auch der Respondent später ein bedeutender Naturforscher werden sollte. Den Inhalt der 41 Seiten starken Disquisitio physico- mathematica de presbytis et myopibus hat der 20-jährige Zürcher Student Johann Jakob Scheuchzer am 27. Mai 1693 verteidigt. Präses war der Professor für Physik und Mathematik Johann Christoph Sturm. Über den Autor der Schrift wird auf dem Titelblatt nichts gesagt, doch schon aus dem ersten Kapitel geht eindeutig hervor, wer sie geschrieben hat. Wenn dort nämlich der Verfasser bei der Beschreibung der altersbedingten Weitsichtigkeit sagt, er selbst habe sie jetzt in seinem 58. Lebensjahr bei sich bemerkt, so kann sich das nur auf den 1635 geborenen Sturm beziehen. Es war Scheuchzer sehr willkommen, daß sein Präses diese Schrift verfaßt hatte. "Wann der respondens der Autor ist, sihet die disputation niemand an, selbige zu lesen, wann sie aber der Praeses gemacht hat, wird sie von iedermann mit großer begird aufgekauft, und an frömbde örther geschickt", schrieb er begeistert an seinen Großvater.6 So sagt die vorliegende Schrift wenig über den jungen Scheuchzer aus, um so mehr aber über die Art und Weise, wie Sturm seine Vorlesungen gestaltete.
        Auf eine kurze Einleitung, in der die Worte Presbyta und Myops etymologisch erklärt werden, folgt als erstes Kapitel eine Aufzählung von 13 Erscheinungen, die auf normale, weitsichtige oder kurzsichtige Augen zurückzuführen sind. In den folgenden Kapiteln werden diese Erscheinungen dann auf ihre physikalischen und anatomischen Ursachen zurückgeführt. Dabei wird immer wieder die Haltung deutlich, die Sturm in der Auseinandersetzung einnahm, die damals die Gemüter an den Universitäten bewegte. Die alten Philosophen und ihre Kommentatoren waren ebenso wie die Dichter des klassischen Altertums nicht mehr die einzigen Autoritäten, auf die man sich berufen konnte, und der "Querelle des anciens et des modernes" in der Literatur entsprach im Bereich der Wissenschaften der Streit zwischen den Anhängern der aristotelisch-scholastischen Philosophie und denen des "modernen", von Descartes begründeten Rationalismus. Sturm bemühte sich als ein typischer Vertreter der Frühaufklärung, hier einen undogmatisch-eklektischen Standpunkt einzunehmen. Er distanzierte sich von Aristoteles ebenso, wie er es ablehnte, sich auf eines der neueren, aus seinem Jahrhundert stammenden Systeme zur Erklärung der Natur festzulegen.7
        Auch ein so modern denkender Mann wie Sturm konnte freilich in seinem Unterricht Aristoteles nicht einfach übergehen; das wäre im ausgehenden 17. Jahrhundert ein zu starker Bruch mit der Tradition gewesen. Also referiert er in der für Scheuchzer geschriebenen Disputierschrift ausführlich, was bei Aristoteles und in verschiedenen Aristoteles-Kommentaren zu dem Thema zu finden ist, wobei er freilich mit Kritik nicht spart: eine dunkle Sprache ("obscura loquendi ratio") und das Verschweigen offensichtlicher Widersprüche seien die Merkmale all dieser Ausführungen. Sturms Einwände gelten vor allem der antiken Vorstellung, das Sehen komme durch einen vom Auge ausgehenden Sehgeist ("spiritus visivus") zustande: diese Voraussetzung müsse zwangsläufig zu falschen Schlüssen in Bezug auf die Sehfehler führen. Auffällig ist, daß er diejenigen mittelalterlichen Autoren, die die Aristotelische Theorie der das Auge verlassenden Sehstrahlen längst widerlegt hatten,8 nicht erwähnt: das nächste Kapitel beginnt mit Kepler. Hier zeigt sich deutlich die bis ins 19. Jahrhundert reichende Geringschätzung der mittelalterlichen Naturwissenschaftler, deren Werke entweder unbekannt waren oder nicht beachtet wurden. Dafür wird, anders als 40 Jahre vorher in Jena, ausführlich auf die Gelehrten der neueren Zeit eingegangen: Neben Kepler werden Duhamel, Traber, Scheiner, Chauvin und Rohault angeführt. Auch der "Clarissimus Newton" ist Sturm bekannt, und zwar aus dem soeben erschienenen Lehrbuch der Dioptrik von William Molyneux.9
        Erst im 4. Kapitel wird das Thema systematisch abgehandelt. Sturm vergleicht das Auge mit einer Camera obscura, in deren Öffnung eine konvexe Linse angebracht ist; er argumentiert mit der Konstruktion von Strahlengängen und verweist auf entsprechende Experimente. Vor allem dieser Teil der Disputierschrift, der sich wie ein modernes Lehrbuch der geometrischen Optik liest, dürfte Scheuchzers Biographen Rudolf Steiger zu dem Urteil veranlaßt haben, die Schrift sei "im Gegensatz zu den meisten derartigen Abhandlungen aus damaliger Zeit auch heute noch genießbar".10
        Mathematik und Naturwissenschaften wurden in den alten Universitäten an der Artistenfakultät gelehrt; der höchste akademische Grad, den diese Fakultät verleihen konnte, war der des Magister Artium. Seit dem 17. Jahr hundert wurden aus den Artistenfakultäten die philosophischen Fakultäten, und im 18. Jahrhundert wurde immer häufiger in Anlehnung an die anderen Fakultäten auch hier der höchste zu erreichende Grad nicht mehr Magister, sondern Doktor genannt. Beide Grade sind, wie auch die gelegentlich auftretende Formulierung "magistri seu doctores" zeigt, im 17. und 18. Jahrhundert als gleichwertig anzusehen; der philosophische Magistertitel ist niemals ein niedrigerer Grad vor dem Doktortitel dieser Fakultät gewesen.11
        Diese terminologische Vorbemerkung soll uns zu einer Abhandlung führen, die über 50 Jahre nach Scheuchzers Altdorfer Disputation aus Anlaß einer Promotion entstanden ist. Christoph Friedrich Stockmaier aus Stuttgart disputierte am 17. April 1751 an der Universität Tübingen, um den Magistergrad zu erwerben. Auch der Präses, der Professor der Physik und Mathematik Georg Wolfgang Krafft, trug hier noch den Titel "Philosophiae Magister". Gegenstand der Disputierschrift ist der Regenbogen; der Titel lautet Dissertatio physico-mathematica de iride.
        Die Einleitung ist von barocker Weitschweifigkeit. Die Geometrie, so heißt es, sei keine gewöhnliche und ausschließlich auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtete Wissenschaft, sondern ein Werkzeug zur Erkenntnis der Natur. Dies könne man am Beispiel der Schneekristalle erkennen, die eine sechseckige Struktur besäßen, und am Beispiel des Regenbogens. Wie bei der Disputierschrift von Sturm folgen anschließend ein historischer und ein systematischer Teil, und es ist vor allem der historische Teil, der uns den damaligen Zeitgeist spüren läßt.
        Drei Epochen werden in der Geschichte des Regenbogens unterschieden; sie werden als die Kindheit, die Jugend und das Mannesalter der Theorie bezeichnet. Die erste Periode umfaßt alle älteren Ansichten vor Descartes, womit die Theorien von Anaxagoras, Pythagoras, Aristoteles, Epikur, Plinius und Seneca gemeint sind. In schulmeisterlichem Ton und einer manirierten Sprache werden den alten Philosophen ihre Irrtümer vorgehalten. Zu Anaxagoras wird z.B. bemerkt, er hätte sich nur etwas präziser ausdrücken müssen ("si modo distinctius haec omnia expressisset") und die Regeln der Geometrie befolgen sollen, dann hätte er auch die richtige Erklärung gefunden. So aber sei seine Theorie nur ein Regenbogen (d.h. eine Verzerrung) der heutigen, dem Mannesalter entsprechenden Erklärung ("iris quaedam explicationis hodiernae ac virilis"). Seneca wird vorgehalten, ihm habe nur das Genie Newtons gefehlt, um den Regenbogen aus den ihm bekannten Tatsachen korrekt erklären zu können: "Senecae [... ] ad perfectam et virilem iridis explicationem nihil defuisset, si modo Newtoni genius ipsi adfuisset."
        Als Jugend der Theorie wird der Beitrag von Descartes gewürdigt, der als erster die Regeln der Geometrie auf die Erscheinung angewandt habe. Während die antiken Philosophen angenommen hätten, der Regenbogen komme durch Reflexion des Sonnenlichtes an einer (meist in Form eines Hohlspiegels gedachten) Wolke zustande, habe Descartes gezeigt, daß er durch Reflexion und Brechung in den Regentropfen entstehe. Es wird offen gelassen, ob diese Erkenntnis nicht schon auf Marcus Antonius de Dominis, Kepler oder Vitellio zurückgeht. Verschwiegen wird freilich, daß die Entstehung des Regenbogens in den fallenden Tropfen schon lange vorher bekannt war. Auch hier stoßen wir wieder auf die für das Zeitalter der Aufklärung charakteristische Geringschätzung des Mittelalters: Von der aus dem frühen 14. Jahrhundert stammenden Schrift De iride et radialibus impressionibus des Dominikaners Dietrich von Freiberg hatte Krafft bzw. Stockmaier offensichtlich nie gehört.12
        So gering der Autor der Disputierschrift über die Vergangenheit denkt, so hoch bewertet er die eigene Zeit, die mit dem Mannesalter der Theorie zusammenfällt. Wenn man die geometrische Erklärung Descartes’ mit der Dispersionstheorie Newtons (Aufspaltung des Sonnenlichts in die verschiedenen Spektralfarben) verbinde, so lesen wir in den folgenden Abschnitten, dann gelange man zur perfekten Erklärung, die allen Erscheinungen des Regenbogens gerecht werde; diese Theorie wird dann ausführlich und systematisch unter Heranziehung mehrerer Zeichnungen dargelegt. Der Gedanke, daß auch die Anhänger früherer, "kindlicher" Theorien ihre Erklärungen für zufriedenstellend hielten und daß sich dementsprechend auch die hier dargelegte, angeblich im Mannesalter stehende Theorie eines Tages als unvollkommen erweisen könnte, liegt den beiden Physikern aus dem 18. Jahrhundert fern.13
        Der vorletzte Paragraph der Abhandlung läßt erkennen, daß auch um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch eine gewisse Verbindung zwischen Physik und Theologie bestand. Zu einer Zeit, als die physiko-theologische Literatur den Buchmarkt überschwemmte, konnte in einer Disputation über den Regenbogen nicht übergangen werden, daß diese Erscheinung auch in der Bibel eine Rolle spielt, und so wird "jene berühmte Frage" behandelt, ob es auch vor der Sintflut einen Regenbogen gegeben haben könne oder nicht. Osiander und Whiston werden zitiert, die beide diese Möglichkeit ausschlossen, und der Leser erfährt, daß Whiston neben der Autorität der Heiligen Schrift auch naturwissenschaftliche Argumente vorgebracht hat: Vor der Sintflut sei die Luft ganz rein und frei von den Dämpfen und Ausdünstungen gewesen, die den Regenbogen verursachten. Diese reine und gesunde Luft habe die Menschen damals auch so alt werden lassen. Der Verfasser räumt ein, daß das Problem schwer zu lösen sei, da man den Zustand der Erde vor der Sintflut nicht kenne, meint dann aber doch, daß die Worte in der Bibel die Möglichkeit eines vorsintflutlichen Regenbogens nicht ausschlössen: Gott könne ja auch den bereits vorhandenen Regenbogen zum Zeichen seines Bundes mit den Menschen gemacht haben, so wie es auch Feldsteine gegeben habe, bevor man sie als Grenzmarkierung benutzte.
        Zusammenfassend läßt sich sagen, daß diese Disputierschrift über den Regenbogen geprägt ist vom Geist der Aufklärung, der den Lehrbetrieb an den Universitäten des 18. Jahrhunderts beherrschte. Selbstbewußt zeigt man, daß man sich nicht mehr von überlieferten Lehrmeinungen bevormunden läßt; man kritisiert unbekümmert die über viele Jahrhunderte als Autoritäten angesehenen antiken Philosophen, ignoriert die Leistungen des Mittelalters und läßt nur noch die Gelehrten der neueren Zeit gelten. Die Verbindung von Ratio und Empirie charakterisiert die Physik dieser Epoche, und als endgültige Theorie des Regenbogens gilt folglich das, was als das gemeinsame Werk des Rationalisten und Mathematikers Descartes und des Experimentators Newton angesehen werden kann. Alle Bereiche des geistigen Lebens werden von den Fortschritten der Naturwissenschaften erfaßt, und selbst die Aussagen der Bibel werden mit physikalischen Überlegungen verknüpft.
        Die Weiterentwicklung der Universitäten von reinen Lehranstalten zu Forschungsstätten hatte zur Folge, daß das Disputieren aus dem akademischen Alltag mehr und mehr verschwand. Reste dieser alten Tradition haben sich jedoch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erhalten. Das mag zum Abschluß ein kurzer Blick auf eine Dissertation zeigen, die vor knapp 120 Jahren entstanden ist.
        Hans Schimank besaß eine Dissertatio inauguralis physica aus dem Jahr 1864, die so wie die Altdorfer Disputierschrift Sturms von einem jungen Mann verteidigt wurde, der sich später als Forscher einen großen Namen machen sollte. August Kundt, der als Erfinder der "Kundtschen Staubfiguren" zur Messung der Schallgeschwindigkeit in Gasen noch heute jedem Physiker ein Begriff ist, promovierte damals an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin mit einer Arbeit über das Thema De lumine depolarisato. Die äußere Form dieser Abhandlung, einer in inhaltlicher und methodischer Hinsicht sehr modern wirkenden experimentellen Untersuchung aus dem Gebiet der Optik, entspricht noch völlig den alten Disputierschriften. Das Titelblatt kündigt den Termin der öffentlichen Promotion an, und obwohl es längst üblich geworden war, daß der Doktorand seine Dissertation selbst schrieb, wird Kundt ausdrücklich als Verfasser genannt ("publice defendet auctor Augustus Kundt"). Noch immer traten Studenten als "Opponentes" gegen die am Schluß der Arbeit aufgeführten "Theses defendendae" auf: Es waren ein Cand. phil., ein Stud. phil. und ein Stud. art. architect., auf deren Einwände Kundt zu antworten hatte. Diese Prozedur war jedoch inzwischen ebenso eine bedeutungslose Formalität geworden,14 wie das Lateinische längst aufgehört hatte, die Sprache der Experimentalphysik zu sein. Kundt zitiert englische, französische und deutsche Arbeiten, aber keine einzige lateinische, und er selbst hat nie mehr lateinisch publiziert, nachdem er bei seiner Promotion zum letztenmal die sprachlichen Fertigkeiten unter Beweis stellen konnte, die er seiner humanistischen Schulbildung verdankte.
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Anmerkungen

 1 Hans Schimank: Reise in die Vergangenheit. Randbemerkungen zum Lebenslauf eines deutschen Physikhistorikers. In: Wege zur Wissenschaftsgeschichte. Lebenserinnerungen [... ] heraugegeben von Bernhard Sticker und Friedrich Klemm. Wiesbaden 1969, S. 83–130.

Hans Kangro: Hans Schimank zum 80. Geburtstag. In: Physikalische Blätter 24(1968), S. 122–124.

Kurt Mauel: Hans Schimank 90 Jahre. In: Technikgeschichte 45 (1978), S. 1–3.

Christian Hünemörder: Hans Schimank (17.3.88–25.8.79) In: Uni HH. Berichte und Meinungen aus der Universität Hamburg. 10(1979), Heft 6, S. 26.

Christoph J. Scriba: Hans Schimank 1888–1979. In: Archives Internationales d'Histoire des Sciences. 31 (1981), S. 200–202.

 2 Persönliche Mitteilung von Dr. Friedrich Andrae, dem Direktor der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen.

 3 Vgl. dazu Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1967 (hier insbes. Kap. III: Das Wesen der normalen Wissenschaft).

 4 Ewald Horn: Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten, vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert. Leipzig 1893 (11. Beiheft zum Centralblatt für Bibliothekswesen), S. 1.

 5 Ibid. S. 51.

 6 Zitiert nach Rudolf Steiger: Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). I. Werdezeit (bis 1699). Zürich 1927 (Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft. XV. 1927. Heft 1), S. 38.

 7 Zu Sturm vgl. Hans Schimank: Die Wandlung des Begriffs Physik während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte, Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Karl-Heinz Manegold. München 1969, S. 454–468. Hier S. 456 ff.

 8 Hier ist vor allem Ibn al Haytham (lat. Alhazen, 965–1040) zu nennen, dessen "Buch der Optik" 1572 in lateinischer Übersetzung unter dem Titel "Opticae Thesaurus" von Friedrich Risner in Basel herausgegeben wurde (Nachdruck New York 1972).

 9 Dioptrica nova. London 1692. Es handelt sich dabei – trotz des englischen Titels – um das  erste Lehrbuch der Optik, das in englischer Sprache verfaßt wurde.

10 Steiger (Anm. 6), S. 38.

11 Horn (Anm. 4), S. 114.

12 Zu Dietrich von Freibergs Schrift über den Regenbogen vgl. die Einleitung zu der Textedition von Joseph Würschmidt (Münster 1914) sowie Carl B. Boyer: The Rainbow. From Myth to Mathematics. New York und London 1959, S. 110–125.

13 Eine neue Theorie des Regenbogens auf der Grundlage der Wellenoptik wurde erst im 19. Jahrhundert von Airy, Miller und Potter entwickelt. Vgl. Boyer(Anm. 12), S. 294 ff.

14 So berichtet z.B. Max Planck, der 1879 promovierte, daß er, "wie es üblich war", bereits vorher mit seinen Opponenten eine freundschaftliche Vereinbarung getroffen hatte. Vgl. Max Planck: Persönliche Erinnerungen aus alten Zeiten. 5. Aufl. Stuttgart 1949, S. 1– 14. Hier S. 4.

Andreas Kleinert