Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von: Gesamtausgabe. Hrsg. von Eberhard Knobloch. Reihe II, Abt. 5: Die Auseinandersetzung mit dem Pfarrer Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf (Tanzgreuel). Bearb. von Mathias Ullmann und Carsten Krautz. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in Kommission bei Franz Steiner: Stuttgart 2002. 523+XXIV S., ISBN 3-515-08130-5. 95,00 EURO.

Der Philosoph, Techniker und Mathematiker Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708), Mitglied der Pariser Akademie und Korrespondent bedeutender Gelehrter wie Leibniz und Huyghens, hatte als Lehnsherr seines 12 km östlich von Görlitz gelegenen Ritterguts Kieslingswalde andere Sorgen als die Infinitesimalrechnung, die Konstruktion von Brennspiegeln und die Herstellung von Porzellan. Jahrelang mußte er sich mit seinem Pfarrer Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf darüber streiten, ob Tanzen auf Dorffesten, Hochzeiten und bei ähnlichen Anlässen eine Sünde ist, die die Obrigkeit – und das war er in diesem Fall selbst – unterbinden muß. Die Auseinandersetzung begann im September 1704, als Kellner in einer Predigt jedes Tanzvergnügen als `Greuel der HölleA brandmarkte. Tschirnhaus, der ein Freund von Schauspiel, Musik und Tanz war, lehnte ein generelles Tanzverbot ab und erlaubte, daß weiterhin getanzt werden durfte, wenn die Tänze sittlich einwandfrei waren. Doch Kellner ließ nicht locker. In zahlreichen Briefen an Tschirnhaus und dessen Gutsverwalter Praetorius bestand er darauf, `daß Tantzen Christen nicht anstündeA und weigerte sich, Tänzer zu Beichte und Abendmahl zuzulassen: Er könne niemandem, der `nach fleischlichen Trieb, und geiler Music [...] seines Fleisches Kützel suchen will, die Gnade GOttes versprechenA . (S. 57)

Beistand erhielt Kellner von der theologischen Fakultät der Universität Halle, die ihm in einem eigens angeforderten Gutachten in barocker Weitschweifigkeit bescheinigte, `daß das Sauffen und Tantzen, wie solche Greuel der Verwüstung leider in der Christenheit deutscher Landen mehr als zu bekandt ist, zu den Lüsten des Fleisches gehören, welche wieder die Seele streiten, davon sich rechtschaffene Christen für allen Dingen enthalten sollenA . (S. 36)

In 99 amtlichen Schriftstücken aus den Jahren 1704–1708, in denen immer wieder dieselben Argumente vorgebracht werden, wird die in der Tschirnhaus-Literatur als Pietistenstreit bezeichnete Auseinandersetzung des Gutsherrn von Kieslingswalde mit seinem Pfarrer dokumentiert. Dazu kommen zwei nach Tschirnhaus> Tod erschienene Veröffentlichungen Kellners, die hier nachgedruckt werden und etwa die Hälfte des Bandes einnehmen. In diesen Schriften (Tantz-Greuel, 1716 und Anhang zu seinem Tantz-Greuel, 1720) hat der Pfarrer von Kieslingswalde den Streit mit Tschirnhaus aus seiner Sicht dargestellt.

Die Bearbeiter haben die Texte nur knapp kommentiert. Die Anmerkungen beschränken sich auf Literaturhinweise und Fragen der Textüberlieferung. Da Begriffe, die heute unbekannt sind, nicht erklärt werden, bleibt dem Leser leider verborgen, was der `4 TantzA gewesen ist (vielleicht die Quadrille?). Für Kellner war dieser `Buben-Tantz oder wohl gar ein Huren-TantzA eins der schlimmsten Laster, denn `an solchen Täntzen verliehret manches fromme Weib, und manche Jungfrau dasjenige, welches sie nimmer wieder erhalten kann.A (S. 315)

Der Inhalt wird durch drei Register erschlossen: ein Personenregister, in dem auch biblische, mythologische und literarische Namen erfaßt werden, ein Stichwort- und Ortsregister und ein Verzeichnis der in den Dokumenten erwähnten Bücher der Bibel. Etwas befremdlich wirkt das Festhalten an der in der DDR als politisch korrekt verordneten Wiedergabe von Ortsnamen. Bei Städten, die seit Jahrhunderten in verschiedenen Sprachen verschiedene Namen haben, findet man als Haupteintrag die fremdsprachige Bezeichnung, die in den Dokumenten gar nicht vorkommt. Wer unter Breslau nachschaut, wird auf Wroclaw verwiesen, bei Straßburg steht `siehe StrasbourgA. Dabei waren die Bearbeiter ebenso inkonsequent wie die Sprachregler der DDR, denn Prag (statt Praha) erscheint nur in der deutschen Form.

In der Einleitung und den Inhaltsangaben, die den längeren Schriftstücken vorangestellt werden, benutzen die Bearbeiter eine eigenwillige Variante der sogenannten neuen Rechtschreibung: Ohne erkennbares System wechseln sie zwischen ß und ss (Busse neben bußfertig, liessen neben erschließen) Masseinheiten statt Maßeinheiten). Aber das sind Kleinigkeiten, die den Wert dieser mit großer Sorgfalt erstellten Quellenedition nicht beeinträchtigen.

Andreas Kleinert (Halle)